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Aufregung im Elfenbeinturm

Nach den drastischen Sparmaßnahmen der britischen Regierung ändern sich jetzt die Kriterien für die Mittelvergabe an die Hochschulen: Forscher müssen künftig nachweisen, dass ihre Ergebnisse gesellschaftliche Relevanz besitzen.

Die Gründung einer neuen Universität müsste bei den gebeutelten Wissenschaftlern Großbritanniens eigentlich gut ankommen. Ist das doch ein Zeichen der Hoffnung mitten im Kürzungschaos und den Unruhen, die das ganze Land derzeit erfasst haben. Noch dazu hat sich das New College of the Humanities (NCH), das Ende nächsten Jahres in London seine Pforten öffnen soll, auf die sonst so vernachlässigten Geisteswissenschaften spezialisiert und dafür hochkarätige Denker angeworben: Prof. Dr. Simon Blackburn, Prof. Dr. Ronald Dworkin, Prof. Dr. Peter Singer zum Beispiel.
Dennoch ist die britische Forschergemeinschaft außer sich vor Wut. Der Initiator, der Philosophieprofessor Dr. Anthony Clifford Grayling, musste bei der Vorstellung des ambitionierten Projekts Anfang Juni sogar vor einer Rauchbombe fliehen. Geworfen hatten sie protestierende Studierende. Die neue Uni ist nämlich als private Eliteanstalt geplant, mit Studiengebühren von umgerechnet über 20 000 Euro jährlich. Sogar der konservative Londoner Bürgermeister Boris Johnson, selbst Oxford-Absolvent, nannte die geplante Hochschule scherzhaft „Reject’s College“ – eine Uni für reiche Schnösel, die an staatlichen Hochschulen abgelehnt wurden.

Graylings NCH und seine Star-Besetzung stehen damit für alles, was aus Sicht von Studierenden wie Wissenschaftlern im Moment falsch läuft in der britischen Hochschullandschaft: Ausverkauf der Bildung, Privatisierung der Forschung, Ökonomisierung der Wissenschaft. Immer mehr Universitäten wollen die neue Höchstsumme von gut 10 000 Euro an Studiengebühren pro Jahr erheben (siehe Infokasten).
Jetzt kommt ein weiterer Paukenschlag hinzu. Vom Streit um Graylings Projekt nur kurzfristig übertönt wird er das britische Wissenschaftssystem ungleich nachhaltiger verändern als eine Uni für die Reichen. Im vergangenen Monat wurden die abschließenden Eckdaten des sogenannten Research Excellence Framework (REF) bekanntgegeben. Das neue Evaluationssystem für Großbritanniens Universitäten ersetzt die alte Research Assessment Exercise (RAE), die seit den achtziger Jahren zum Alltag britischer Forscher gehört.

Forschungsfreiheit in Gefahr

Als das zuständige Higher Education Funding Council for England (HEFCE) vor einigen Jahren beschloss, die regelmäßige Evaluierung der Universitäten grundlegend zu überarbeiten, wurde dies zunächst noch  allseits begrüßt. Hielt das bisherige aufwendige und kostspielige System die Wissenschaftler doch zunehmend von ihrer eigentlichen Arbeit ab. Das nunmehr konzipierte neue Evaluationssystem REF ist für Wissenschaftler schockierend: Künftig werden bei der Evaluierung der Hochschulen nicht nur die Forschungsleistungen der angestellten Wissenschaftler und die Organisationsstruktur der Institute bewertet, sondern auch der sogenannte „impact“. Gemeint ist damit die gesamtgesellschaftliche Wirkung der Forschung über den akademischen Rahmen hinaus. Diese Einbeziehung von wissenschaftsfremden Faktoren in die Evaluation könnte die Freiheit der Forschung in Großbritannien nachhaltig bedrohen, befürchten Kritiker.

Gegner der Reform finden sich vor allem in den Reihen der Forscher. Schon 2009 sprachen sich berühmte Wissenschaftler und Nobelpreisträger öffentlich gegen die Pläne aus. Ohne Erfolg. Vor wenigen Wochen nun legten die versammelten Universitätsprofessoren aus Oxford, Cambridge und Leeds nach und entzogen dem zuständigen Wissenschaftsminister David Willets offiziell das Vertrauen. Rechtliche Konsequenzen folgen daraus zwar nicht. Allerdings verschob Willets den Stichtag für das Ende der ersten REF-Evaluationsrunde um ein Jahr auf 2014, um zu einer, wie er sagte, „einvernehmlichen Definition“ der „impact factors“ zu gelangen. Zudem soll die Gewichtung der gesellschaftlichen Wirkung im allgemeinen Evaluationsergebnis in der ersten Runde nur 20 statt wie ursprünglich geplant 25 Prozent betragen. Doch die Einbeziehung des gesellschaftlichen Nutzens selbst ist ein unumstößlicher Fakt, den britische Wissenschaftler zähneknirschend werden hinnehmen müssen.

Verwaltet werden die staatlichen Fördertöpfe in England vom HEFC. Dessen Vorgaben sind schon auf das neue Evaluationssystem angepasst. Danach sollen bei der Verteilung der Fördergelder für die Forschung auch der „soziale, wirtschaftliche oder kulturelle Einfluss oder Nutzen außerhalb des universitären Rahmens“ berücksichtigt werden. Außerdem muss die Forschung eine direkte und gewollte Wirkung erzielen. Die Universitäten müssen also nachweisen, dass sie diesen Einfluss geplant haben. Das läuft aber nicht nur der traditionellen Bewertung wissenschaftlicher Qualität durch andere Forscher im Peer-Review-Prozess zuwider, kritisieren Wissenschaftler. Es widerspreche auch der Wirkung universitärer Forschung auf die breite Gesellschaft, die oft genug ein langsamer, unstrukturierter und vor allem unberechenbarer Prozess sei.

Die Folgen der Reform zeigen sich in einer Pilotstudie

Die Folgen der Einbeziehung solcher außeruniversitärer Faktoren zeigten sich in einer Pilotstudie, für die Ende vergangenen Jahres einige Universitätsinstitute einen Probelauf unter den Bedingungen des neuen REF unternahmen. Die Fachpanels wurden dabei zu gleichen Teilen mit Wissenschaftlern und sogenannten „research users“ besetzt, also private oder öffentliche Abnehmer der Forschung, wie Verlagsleiter, Geschäftsführer von Wohltätigkeitsorganisationen oder Ministerialbeamte. Für den Beweis eines gewollten, direkten Einflusses auf diese Forschungsabnehmer sollten die Hochschulen überzeugende Beispiele einreichen.

Für die Naturwissenschaften war das recht einfach. So schickte etwa die Universität von Durham die Firma Kromek ins Rennen, die unter anderem spezielle Detektoren für Flughafenscanner herstellt. Mit ihnen können Beschränkungen für Flüssigkeiten im Handgepäck von Flugreisenden umgangen werden. Die Grundlage der hergestellten Produkte bildete die Forschung des dortigen Physik-Instituts. Die Universität von Warwick punktete mit der Entwicklung der „Floating Low Energy Ion Gun“ (FLIG). Das ist ein Messgerät, das in der Herstellung von Halbleitern benutzt wird und die Entwicklung von Mehrkernprozessoren für Personalcomputer möglich macht.

Denker unter Druck

Naturgemäß schwerer tun sich dagegen die  Geisteswissenschaftler beim Nachweis eines eng umrissenen Nutzens ihrer Forschung. Fächer wie Philosophie oder Sprachwissenschaften produzieren in den seltensten Fällen Produkte, die sich tatsächlich vermarkten lassen. Die Anglistik-Institute, die an der Pilotstudie teilnahmen, führten deshalb größtenteils ihre Star-Professoren ins Feld. Sie konnten immerhin durch regelmäßige Radiosendungen, populäre Buchveröffentlichungen, Zeitungsartikel und öffentliche Lesungen eine breitere Massenwirkung geltend machen.
Schielen auf den Massenmarkt

Der Historiker und Anglist Professor Dr. Stephan Collini von der University of Cambridge kritisierte diese Art des Schielens auf den Massenmarkt unter den Geisteswissenschaften daraufhin scharf. In einem Artikel im Hochschulmagazin Times Higher Education schrieb er: Erstens sei damit ein ungemeiner Arbeits- und Zeitaufwand ohne große Aussicht auf messbare Wirkung verbunden. Um zum Beispiel eine neue Studie über einen wenig bekannten viktorianischen Dichter bei einem Radiosender unterzubringen, müssten die Universität oder der Forscher kostbare Zeit und Energie für Marketing aufwenden – ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität des Werks. Der Einfluss von abstrakten Ideen oder einem neuen Zugang zu alten Werken lasse sich eben erst – wenn überhaupt – lange nach der Veröffentlichung und nur durch aufwendige Recherche nachweisen.
Zweitens führe, so Collini, eine marktgeleitete Forschung zu einer zwangsläufigen Konzentration auf massentaugliche Themen, etwa das Sexleben des betreffenden Dichters. Überdies bliebe die grundlegende Frage, warum Erfolg auf diesem Gebiet für die Bewertung der Qualität von Forschungsinstituten ausschlaggebend sein solle. Die Folge sind nach Meinung des Autors zweitklassige Universitäten mit erstklassigen Marketingabteilungen.

„Wenn wir als Wissenschaftler immer wüssten, was wir tun, dann würde man das nicht Forschung nennen.“

Trotz dieser fundamentalen Änderung in der Forschungsevaluation und damit auch auf die Hochschulfinanzierung lässt sich in den Führungsetagen der Universitäten kein Widerspruch erkennen. Der Dachverband britischer Universitäten, Universities UK, äußerte im Gegenteil vorsichtige Unterstützung für die Einführung der Wirksamkeitsfaktoren: „Es ist unserer Meinung nach wichtig, den Beitrag universitärer Forschung zu unserer Gesellschaft anzuerkennen und zu fördern.” Dieser Begriff meine im Grunde nichts anderes, als mit wissenschaftlicher Arbeit auch die Welt zu verändern. Und dies liege schon jetzt dem Selbstverständnis der meisten wissenschaftlichen Förderorganisationen und Forscher zugrunde. Spitzenforschung und gesellschaftliche Wirkung schlössen sich nicht gegenseitig aus. Bedeckt hält sich die Royal Society – eine der ältesten Gelehrtengesellschaften der Welt. Sie verweigerte jeglichen Kommentar zum REF. Man beobachte „die weitere Entwicklung“.

Die Forscherbasis allerdings murrt. Organisiert von der Gewerkschaft der Universitätsangestellten, der University and College Union (UCU), fanden schon im Jahr 2009, als die neue Gewichtung in der Evaluation das erste Mal auf die Agenda kam, verschiedene Protestaktionen statt. Die UCU war es auch, die Unterschriften berühmter Wissenschaftler und Nobelpreisträger sammelte und eine Liste von bahnbrechenden Entdeckungen britischer Forscher aufstellte – etwa die Entdeckung der DNA-Doppelhelix durch James Watson und Francis Crick –, die unter den neuen Richtlinien nie zustande gekommen wären.

„Wie Einstein schon sagte: Wenn wir als Wissenschaftler immer wüssten, was wir tun, dann würde man das nicht Forschung nennen“, sagte die UCU-Generalsekretärin Sally Hunt gegenüber der duz. „Wir können uns nicht vorstellen, wie solch ein ungeprüftes System, das nirgendwo sonst auf der Welt existiert, auf irgendeine Weise die internationale Reputation Großbritanniens und hiesige Spitzenforschung fördert oder bedeutende Akademiker anlockt.“
Bestätigt sieht sich die Gewerkschaft auch durch eine eigens in Auftrag gegebene Umfrage Anfang des vergangenen Jahres. Demnach gab mehr als ein Drittel der 600 befragten Wissenschaftler an, ihre Karriere ins Ausland verlegen zu wollen, falls die Änderungen eingeführt werden.

Besorgte Reaktion aus Deutschland

Auch in Deutschland werden die britischen Pläne kritisch gesehen. Deutschlands Wissenschaft blieb bisher von solchen Ideen verschont – und so soll es nach Ansicht der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) auch bleiben. „Selbstverständlich sind die Hochschulen in Forschung und Lehre der Gesellschaft verpflichtet“, sagte HRK-Präsidentin Professor Dr. Margret Wintermantel. Eine Wirkungsmessung als Index für die Finanzierung könne sie sich allerdings nicht vorstellen. „Wie definiert eine differenzierte Gesellschaft wie die unsrige den Nutzen und wer sollte ihn messen? Gerade für die Grundlagenforschung, die an deutschen Universitäten auf Spitzenniveau betrieben wird, sähe ich große Gefahren“, sagte Wintermantel. Denn deren Nutzen sei besonders schwer messbar und nur in wenigen Fällen unmittelbar und klar ersichtlich. Wintermantel: „Irrwege gehören dazu und müssen ‚straflos’ möglich sein.“

Die Zurückhaltung der britischen Universitäts- und Forschungsbosse kann als ein Zeichen starker Verunsicherung gedeutet werden. Ausgelöst sein könnten sie durch die radikalen Kürzungen im Bildungsbudget. Der verschärfende Wettbewerb um schwindende Fördergelder fördert die Konzentration auf politisch opportune Themen. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Arts and Humanities Research Council (AHRC), die größte geisteswissenschaftliche Förderinstitution des Landes mit einem jährlichen Budget von umgerechnet rund 115 Millionen Euro. Vor der im Frühjahr anstehenden Verhandlung mit der Regierung über künftige Fördergelder hatte das AHRC bekannt gegeben, unter dem Schlagwort „Big Society“ in Zukunft besonders die Erforschung von zivilgesellschaftlichem Engagement zu fördern. Das Pikante daran: Die „Big Society“ ist ein Lieblingsprojekt des konservativen Premierministers David Cameron und war ein Eckpfeiler seiner Wahlkampagne im vergangenen Jahr.

Wissenschaftler sollen entscheiden

Die AHRC-Ankündigung rief in der Akademikergemeinde Empörung aus und wurde als Aushebeln des „Haldane Principle“ bezeichnet. Der nach dem Politiker und Philosophen Richard Burton Haldane benannte Grundsatz legt seit über 90 Jahren fest, dass nur Wissenschaftler und eben nicht Politiker entscheiden sollen, wofür Forschungsgelder ausgegeben werden. Die Regierung hatte jedoch zuvor in einer Klärung der Richtlinie festgelegt, dass Forschungsinstitutionen den nationalen Zielvorstellungen der Regierung folgen müssen.

In den Zeiten knapper Kassen hat sich in der britischen Politik offenbar eine nutzenorientierte Sicht auf den Bildungssektor durchgesetzt. Der Tenor: Wenn man jedes Jahr Milliarden von Euro in die Wissenschaft steckt, will man auch wissen, was man dafür bekommt. Diese kaufmännische Einstellung hielt aber nicht erst mit der neuen konservativen Regierung Einzug. Schon unter dem Labour-Premier Gordon Brown wurde die Zuständigkeit für den Hochschulsektor ausgerechnet an das Wirtschaftsministerium übertragen. Die Einführung der „impact factors“ ist nur die logische Konsequenz dieser Entwicklung.

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