Am 5. August 1933 wird die Tageszeitung Tempo eingestellt – als erstes Ullsteinblatt nach der Machtübernahme Hitlers.
in: Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus, Pressechronik 1933, 5 August 2013
Tempo, das jüngste Kind in Ullsteins Zeitungssortiment, sollte den Lebensstil der jungen Generation der Weimarer Republik bedienen, die unter den Einflüssen des demokratischen Umbruchs von 1918/19 und einer beginnenden Konsumgesellschaft aufgewachsen war. Mit dem Namen, der modernen Aufmachung und der hohen Erscheinungsrate – zwischenzeitlich gab es drei verschiedene Ausgaben pro Tag – orientierte sich der Verlag laut der Geschäftsführung an Vorbildern aus New York und London. In einer optimistischen Programmerklärung in der ersten Ausgabe der neuen Zeitung, die am 11 September 1928 erschien, beschrieb Ullstein eine Jugend, die sich mit den Umwälzungen der Nachkriegszeit abgefunden hatte und nach vorne blickte:
“Was ist der Sinn, die geistige Absicht der neuen Zeitung? Die Antwort gibt unser Name. Wir vermitteln Unterrichtung und Unterhaltung knapp in dem Tempo, in dem der moderne Mensch lebt. Nur Alternden erscheint dies als atemlose Hetze. Dem tätigen, strebenden, jungen Menschen ist Tempo der Schwung seines Ehrgeizes, seines Vorwärtsdranges. Tempo sitzt nicht in den Beinen, sondern im Herzen. Wir wenden uns an die deutsche Generation, die unter unserem Lebenstempo nicht mehr ächzt, sondern es schon als Ausdruck ihrer Lebensbejahung empfindet. Wir wollen versuchen, ihr alles zu geben, was sie in ihrer Anspannung und Entspannung gebrauchen kann. Und mit ihr hoffen wir rasch vorwärts zu kommen.”[1]
Mit dieser Programmatik der Beschleunigung und der Modernität wurde Tempo schnell zu einem Symbol der angeblichen „Amerikanisierung“ der Kultur der Zwischenkriegszeit, die vor allem rechte Kreise beklagten. Der Jungdeutsche Orden bezeichnete Tempo als eine „Asphaltblüte“ und die Nazis nannten die Zeitung nur verächtlich „die jüdische Hast“. Vor allem junge Angestellte und Frauen zählten zu den Leserschichten, die Ullstein mit der neuen Zeitung ansprechen wollte. Dies hatte zuvorderst wirtschaftliche Motive: Die Jahrgänge zwischen 1900 und 1910 gehören zu den geburtenstärksten der deutschen Geschichte und diese jungen „Babyboomer“ stellten in den späten Zwanziger Jahren eine wichtige Konsumentenschicht dar, die es zu erschließen galt. Doch die Gründung vonTempo hatte auch politische Gründe: In der Reichstagswahl im Mai 1928 hatten die bürgerlichen Parteien wie DDP und DVP Stimmen eingebüßt und vor allem die Jugend schien sich vom Bürgerblock abzuwenden. Der Ullstein-Verlag, der der liberal-demokratischen DDP nahe stand, sah Tempo deshalb auch als Werkzeug, um die Jugend für die liberale Politik zu gewinnen:
„Die jüngere Generation ist leider nur allzusehr die Beute einer überradikalen oder klassenkämpferischen Hetz-Presse geworden. […] Tempo hofft, indem es ihr alle Erfolgsmöglichkeiten des wirklichen Lebens zeigt, diese Generation in Massen zur staatsbürgerlichen, produktiven Denkweise führen zu können.“ [2]
Wegen der bald nach der Gründung der Zeitung einsetzenden Wirtschaftskrise und der einhergehenden Radikalisierung der Öffentlichkeit musste Tempo allerdings schon bald sein modernes, liberal-demokratisches Programm aufweichen. Trotzdem blieb die Zeitung immer ein entschiedener Verfechter der demokratischen Grundordnung der Weimarer Republik und ein resoluter Gegner der erstarkenden Nationalsozialisten. Auch vor persönlichen Fehden mit dem damaligen Gauleiter in Berlin, Joseph Goebbels, schreckte die Redaktion nicht zurück. So überrascht es nicht, dass Tempo später durch die Nazipresse als „in dem Verleumdungskampf gegen die nationalsozialistische Bewegung lange Zeit führend” bezeichnet wurde.[3] Erst nach der Machtübernahme im Januar 1933 schwenkte die Zeitung langsam auf den Kurs der neuen Regierung um, nach dem Reichstagsbrand im Februar beschleunigte sich die Gleichschaltung von Tempo rapide. Als Tempo am 5. August 1933 – als erstes Ullsteinblatt nach der Machtübernahme Hitlers – eingestellt wurde, erklärte die Zeitung die kurze Epoche der urbanen, modernen Kultur der Zwischenkriegszeit, für die sie selbst auch stand, für beendet:
„Im Herbst 1928, in den Jahren stärkster öffentlicher Bewegung gegründet, war das Tempo berufen, lebendiges Ausdrucksmittel einer bestimmten Entwicklungsstufe der letzten ‚Nachkriegsjahre’ zu sein. […] Die Ablösung dieser Epoche erregender Rastlosigkeit und kämpferischen Suchens durch die Stetigkeit der Entwicklung eines neuen Deutschland hat auch die Voraussetzungen für den Dienst am Leser verändert. Das Tempo sieht seine Aufgabe als beendet an; es stellt somit das Erscheinen mit der heutigen Nummer ein.“[4]
Jochen Hung
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