MAZ, 19 April 2007

Das zweite Leben der arktischen Affen

Mit dem Schlagwort „Web 2.0“ wird für das Internet der zweiten Generation geworben – neu ist es jedoch nicht  

Deutschland ist 38.128 Quadratmeter groß und hat 66.119 Einwohner. Außerdem heißt es offiziell Apfelland. In der Onlinesimulation „Second Life“ („Zweites Leben“) zumindest, dort wird die Insel „Apfelland“ als der „Treffpunkt für deutschsprachige Second Life Community“ angepriesen. Diese Simulation ist eine Art Computerspiel, an der Internetnutzer aus der ganzen Welt teilnehmen – die „Einwohner“ von „Second Life“. Über vier Millionen sind es laut des amerikanischen Entwicklers Linden Labs mittlerweile.

Das Spiel hat im Unterschied zu normalen Computerspielen kein direktes Ziel, der einzige Sinn und Zweck ist es, dort zu existieren. Das zweite Leben ist allerdings gehörig anders als das richtige: Man kann sich an jeden Ort des „Second Life“-Universums teleportieren, man kann sein Äußeres – sprich das seines „Avatars“, seiner Spielfigur – nach Belieben verändern und man kann auf Wunsch fliegen. Gerade diese fantastischen Elemente machen den Reiz der virtuellen Existenz aus. Auf einer anderen Ebene gleicht das Leben im Computer allerdings wieder genau dem echten Leben: Das wichtigste in „Second Life“ ist das Geld, die virtuelle Währung „Linden Dollars“. Damit kann man sich neue Kleidung für die Spielfigur kaufen, eigenes Land erwerben und alle möglichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, vom virtuellen Erotikkino bis zu einer schnelleren Verbindungsrate zum „Linden Labs“-Computer.

„Second Life“ gehört zum so genannten „Web 2.0“, also dem Internet der zweiten Generation. Damit sind neue Internetangebote gemeint, deren Inhalte hauptsächlich durch die Benutzer selbst gestaltet werden. Die Online-Enzyklopädie „Wikipedia“ und das soziale Netzwerk „Myspace“ gehören ebenfalls dazu. Die Lexikon-Einträge von Wikipedia werden von allen Nutzern gemeinsam geschrieben, redigiert und weiterentwickelt, mittlerweile arbeiten mehr als 285 000 ehrenamtliche Autoren an dem Online-Wörterbuch. Die Idee hinter „Wikipedia“ ist die Überzeugung, dass eine Masse von Amateuren allein durch ihre Anzahl fundierteres Wissen zusammentragen kann als die kleinen Experten-Teams, die in den Redaktionen der herkömmlichen Nachschlagewerke sitzen. Während die Überprüfbarkeit und Belastbarkeit mancher Wikipedia-Einträgen manchmal zweifelhaft ist, kommt ein kommerzielles Lexikon tatsächlich nicht einmal annähernd an den schieren Umfang der demokratisch entstandenen Konkurrenz heran: Von Aah, dem Schöpfergott des alten Ägyptens, bis Zzz, einer niederländischen Garagenrockband, findet sich zu fast jedem Thema ein Eintrag auf „Wikipedia“. Durch diese Vielfalt, den schnellen Zugriff durch den Computer und nicht zuletzt weil der Dienst kostenfrei ist, hat sich Wikipedia längst neben den althergebrachten Lexika etabliert.

Der Erfolg der Internetseite „Myspace“ („Mein Platz“) ist etwas schwerer zu erklären. Dort bekommen die Benutzer eine eigene Seite zugeteilt, ihren eigenen Platz, auf dem sie sich den anderen präsentieren können: mit Hobbys, Lieblingsfilmen und Musikgeschmack. Benutzer mit ähnlichen Interessen können dann in Kontakt treten, sich über ihre gemeinsame Lieblingsband oder ihren Lieblingsfilm unterhalten. Auf den ersten Blick eine harmlose Kommunikationsplattform. Welche Macht diese neuen Formen des Internets allerdings haben können, zeigt der Fall der britischen Band „Arctic Monkeys“: Die unbekannte Gruppe aus der nordenglischen Industriestadt Sheffield verbreitete ihre Songs kostenlos über das „Myspace“-Forum. Dort wurden die Lieder unter den Benutzern ausgetauscht und leidenschaftlich weiterempfohlen. Durch diese Werbung konnten die damals minderjährigen Musiker ganze Stadien füllen, ohne einen Plattenvertrag und eine echte Veröffentlichung. Damit wurde die gesamte Funktionsweise der Musikindustrie als Torwächter zum kommerziellen Erfolg unterlaufen. Die Gruppe wurde danach von vielen großen Plattenfirmen umworben, entschied sich aber für ein kleines Londoner Musiklabel. Das dort veröffentlichte Debütalbum der „Arctic Monkeys“ verkaufte sich am ersten Tag 11 8000 mal und schrieb damit Musikgeschichte als das Debut-Album, das sich am schnellsten verkaufte. Der Erfolg im Virtuellen lässt sich also durchaus in die reale Welt übertragen.

Menschliche Kontakte und Sozialbeziehungen sind auch die Basis von „Second Life“. Man kann mit allen „Einwohnern“ kommunizieren, handeln und interagieren. Und diese virtuelle Kommunikation kann wie bei „Myspace“ durchaus reale Konsequenzen haben. So gibt es schon eine Benutzerin, die Deutsch-Chinesin Ailin Gräf, die durch Grundstücksspekulationen in der „Second Life“-Welt zur Millionärin geworden ist – und das im „ersten“ Leben. Denn das virtuelle Geld hat einen echten Gegenwert, der Währungskurs liegt etwa bei 270 „Linden“- zu einem US-Dollar (MAZ berichtete). Und auch die Politik hat schon ihren Weg ins zweite Leben gefunden. So machten die beiden französischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy und Ségolène Royale in „Second Life“ Wahlwerbung. Der Vorreiter war jedoch Jean-Marie Le Pen, der Vorsitzende der rechtsradikalen „Front National“. Als die Partei in „Second Life“ ihre Zentrale errichtete, gab es Proteste in der virtuellen Welt, mit Demonstrationszügen und – man glaubt es kaum – Vandalismus.

Verwunderlich ist der Erfolg der Netzwerkseiten im Internet nicht. Denn das war schließlich die originäre Idee der ganzen Erfindung: Das US-Militär vernetzte 1969 Universitätscomputer miteinander, um den Austausch von Forschungsergebnissen zu erleichtern und legte damit den Grundstock des Internets. In den Anfängen der privaten Nutzung in den Achtziger Jahren dominierten so genannte „Virtual Communities“, Kommunikationsnetze von Computernutzern, die sich über Vorlieben und Hobbys austauschten. Das Internet der zweiten Generation ist im Grunde nur eine Weiterentwicklung dieser Anfänge: Statt virtueller „Schwarzer Bretter“ nutzt man nun eben die bunten Avatare von „Second Life“, um miteinander zu kommunizieren. Das Web 2.0 ist also keineswegs etwas revolutionär Neues. Denn die Virtualisierung der menschlichen Kommunikation begann schon viel früher mit der Erfindung der Schrift und setzte sich dann mit dem Telegraphen und dem Telefon weiter fort. Das Internet ist lediglich ein weiterer Schub dieser Virtualisierung: Die menschliche Kommunikation wird dadurch nicht entscheidend verändert, nur die Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme werden ungemein erweitert. Am besten lässt sich die Bedeutung des Internets mit einem weiteren viel diskutierten Phänomen unserer Zeit vergleichen: dem Aufkommen von Billigfliegern wie Ryanair oder Easyjet. Der potentielle Radius unserer sozialen Kontakte erweitert sich durch Fernreisen zum Preis einer Taxifahrt ungemein und auf eine Art, die man sich vor 10 Jahren nicht hätte träumen lassen. Das Fliegen wurde so allerdings nicht neu erfunden.

Es handelt sich beim Web 2.0 also um eine Korrektur der immer noch andauernden Entwicklung des Netzes: Vom Internet als Marktplatz zurück zum Internet als Kommunikationsplattform. Diese Kurskorrektur war nötig nach der Übernahme des Mediums durch die Wirtschaft in den Neunziger Jahren. Damals wurden jedes Projekt und Unternehmen finanziert, bei dem an irgendeiner Stelle die Schlagwörter „interaktiv“ oder „online“ vorkamen. Aggressive Investmentfonds, aber auch viele seriöse Unternehmen steckten Milliarden in Internetprojekte, die auf ganzer Linie scheiterten. In den britischen Online-Modeversand „Boo.com“ wurden beispielsweise mehr als 120 Millionen US-Dollar investiert. Das Unternehmen existierte nicht einmal ein Jahr und kam wegen technischer Probleme und eklatanter Managementfehler nie über einen Probebetrieb hinaus.   Alle diese Projekte servierten dem Nutzer mehr oder weniger vorgefertigte Inhalte gegen Bezahlung, das Internet wurde lediglich als ein neuer Vertriebsweg angesehen. Manche dieser neuen Dienste, wie der Versandhandel Amazon, sind erfolgreich, die meisten Projekte gingen allerdings wieder ein: Wer erinnert sich zum Beispiel noch an Boris Beckers Sportportal „Sportgate“?

Diejenigen, die überlebt haben, weisen ein starkes Netzwerkelement auf: Amazon wurde unter anderem auch durch die Möglichkeit der Bewertung der Produkte durch die Einkäufer beliebt, und die erfolgreiche Auktionsseite Ebay bietet im Grunde genommen nur eine Plattform für die soziale Interaktion ihrer Benutzer. Trotz der schlechten Erfahrungen mit dem Web 1.0 bekommen viele Finanziers aber schon wieder feuchte Hände angesichts des neuen Internetbooms. Viele namhafte Unternehmen, darunter Daimler-Benz und Gucci, haben virtuelle Filialen in „Second Life“ eröffnet, in denen man Handtaschen kaufen und Testfahrten in virtuellen Luxusautos absolvieren kann. Gewinne versprechen sich die Unternehmen davon nicht, nur einen vagen Imagegewinn. Und auch im krisengebeutelten echten „Apfelland“ sitzen die Millionen wieder lockerer: Das Medienhaus Holtzbrink hat vor kurzem das deutsche „Myspace“-Pendant „StudiVZ“ für 85 Millionen Euro gekauft, obwohl der Internetdienst bis jetzt Verluste schreibt.